Journal für ergotherapeutische Forschung und Lehre (JeFL) 1:1 (1999)

Konstitutionsbedingungen einer Fachwissenschaft Ergotherapie

Gisela Beyermann
Schule für Ergotherapie am BBRZ, Langensteinbach

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Konstitutionsrahmen
  3. Gegenstandsfeld
  4. Konstitutionsbedingungen
  5. Literatur
  6. Glossar

Zusammenfassung

Angestoßen durch die Auseinandersetzung mit ergotherapeutischen Theorien, vor allem im angelsächsischen Raum, ist auch die deutsche Ergotherapie bestrebt wissenschaftliche Theoriebildung zu fördern. Hiervon ausgehend wird untersucht welchen Rahmenbedingungen eine ergotherapeutische Wissenschaft genügen muß und wie diese innerhalb der Ergotherapie gestaltet sein müssen. Im ersten Schritt wird versucht ein Gegenstandsfeld der Ergotherapie innerhalb des Bereiches sozialer und medizinischer Rehabilitation abzustecken. Weiter werden 6 Schlüsselbegriffe entwickelt, die mindestens notwendig sind um Ergotherapie wissenschaftlich faßbar zu machen.

Summary

In contrast to several other countries german occupational therapy (here called "Ergotherapy") has not been constituated jet as an academic discipline. Nevertheless german occupational therapists have started discussing scientific theories that could constitute their field. This paper will discuss a constitutional framework for an "ergotherapeutic" (occupational Therapy) science within the german academic scene. A field of its scientific subjects is defined within the area of social and medical rehabilitation. Furthermore six key concepts are developed that could constitute Ergo(occupational)therapy as a scientific subject.

Stichworte: Theorie; Wissenschaftlichkeit; Bezugswissenschaften; Gegenstandsfelder

Keywords: Theory; scientific research; related sciences; fields of scientific objects in OT

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1. Einleitung

Die deutsche Ergotherapie ist nach ca. 50 jähriger Existenz ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitswesens, dessen Bedeutung ständig zunimmt. Trotzdem wird die Ergotherape derzeit von dem Versuch überrascht sie mit einer theoretischen Basis zu untermauern. Bisher war die Entwicklung durch eine stetige Expansion gekennzeichnet: der Berufsangehörigen, Methoden , Arbeitsfelder und Patientengruppen. Trotzdem ist all die Jahre nach der wissenschaftlichen Fundierung und der wissenschaftlich belegten Wirksamkeit nicht gefragt worden.

Sicher erscheint die wissenschaftliche Welt vielen Ergotherapeuten als verwirrendes Angebot von Theorien, Richtungen und Disziplinen. Es ist verständlich, daß sie gerade auf dem Hintergrund der Vielfältigkeit der Bezugsdisziplinen für viele Ergotherapeuten und Schüler als ein erschreckender Urwald erscheint. Die dort herrschenden Geister zu fordern fühlt sich kaum ein Ergotherapeut qualifiziert und berufen. So entwickelt sich ein Kreislauf, in dem sich vielleicht auch die nächste Berufsgeneration lieber nur mit der praktischen Arbeit auseinandersetzt und den vielschichtigen Prozess wissenschaftlicher Theoriebildung vernachlässigt. Dies gilt um so mehr als Ergotherapeuten durch ihren ganzheitlichen Behandlungsanspruch dem Bemühen vieler wissenschaftlicher Disziplinen um eine Analyse von Einzelprozessen und deren Verknüpfungen mißtrauisch gegenüberstehen.
Grundsätzlich aber gilt: berufliche Praxis ohne Theorie kann es nicht wirklich geben. Ohne Theorie bleibt sie unvollständig und ihre Entwicklung dem Zufall überlassen. "nichts kann praktischer sein als eine gute Theorie"( Langfeldt 1993 ).

Es bleibt jedoch zu klären, in welcher Weise diese Theorie vorliegen muß um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen.
Die Wissenschaftstheorie (Epistemologie) unterscheidet drei Abstraktionsniveaus:

Berufspraktisch hat Ergotherapie heute im Idealfall ein kombinierendes Konzept. Ergotherapeuten wählen für den jeweiligen Patienten ihre praktischen Methoden (und die zugehörigen Modelle) aus einer Vielzahl von Kenntnissen und Fähigkeiten aus, die sie durch ihre Ausbildung, die eigene Berufspraxis und eventuelle Fort- und Weiterbildungen erworben haben.

Wissenschaftlich vollzieht die deutsche Ergotherapie erste Gehversuche, angestoßen durch die wissenschaftlichen Bemühungen um Ergotherapie vor allem im anglo-amerkanischen Raum (Kielhofner 1992, orientiert auch an den Professionalisierungsbestrebungen der Pflegeberufe. Wenn die Ergotherapie sich als wissenschaftliche Disziplin konstituieren will, dann beinhaltet das umfangreiche Aufgaben.

"Theoriebildung dient der Fundierung und Wirksamkeit der ergotherapeutischen Angebote. Sie unterstützt die Qualitätssicherung der ergotherapeutischen Versorgung sowie die Professionalisierung der ergotherapeutischen Berufs- und Ausbildungspraxis. Sie ist unabdingbar für die Konkurrenzfähigkeit ergotherapeutischer Arbeit mit anderen Berufsgruppen und internationalen Standards." (DVE 1997)

.

Gleichzeitig erleben viele Berufsangehörige eine gewisse Ambivalenz angesichts dieser Entwicklung. Zwei Fragen werden vor allem gestellt:

- Wollen Ergotherapeuten auf eigenen Pfaden in den wissenschaftlichen Urwald vordringen oder lieber weiterhin im Windschatten der Medizin segeln, der die berufliche Entwicklung so weit getragen hat?
- Ist Ergotherapie wirklich wissenschaftsfähig?

Die erste Frage kann nur durch die ErgotherapeutInnen selbst und die berufspolitische Entwicklung beantwortet werden. Trotzdem ist es eine wichtige berufspolitische Frage, insbesondere weil in benachbarten Bereichen zunehmend wissenschaftliche und berufspolitische Entwicklungen einsetzen, die auf ergotherapeutische Methoden und Berufsfelder zielen, oder Einfluß auf diese nehmen. Ohne eine eigene wissenschaftliche Fundierung der Ergotherape wird es daher langfristig schwer sein die bisherige relative Unabhängigkeit der ErgotherapeutInnen zu erhalten. Die zweite Frage ob Ergotherapie wissenschaftsfähig ist, soll daher im folgenden erörtert werden.
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2. Konstitutionsrahmen

Die Konstitution einer Wissenschaft oder Fachwissenschaft, läßt sich im Bereich der eingangs genannten Methatheorie ansiedeln, und geht über die Etablierung einer isolierten Theorie hinaus. Eine wissenschaftliche Disziplin muß bestimmte Elemente aufweisen, und Anforderungen genügen, die die Wissenschaftsentwicklung der vergangenen Jahrhunderte begründet hat. Dies bedeutet auch, daß sie einen Platz im Rahmen einer Fülle von anderen Wissenschaften behaupten muß, die oft seit langem etabliert sind. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Elemente einer Wissenschaft.

Wissenschaft ist eine soziale Konstruktion von Wirklichkeit.
Sie umfasst
- einen Gegenstand
- explizite und implizite Annahmen,
die als Methateorien oder Theorien gefasst werden
- Grundbegriffe (in ihrer Differenz von intra- und extradisziplinärer Bedeutung)
- Problemdefinition und somit auch Problemausblendungen
- die methodische Zurechtlegung des Gegenstandes innerhalb der jeweiligen Zunft
- die daraus folgende Aspekthaftigkeit des Wissens
- die historischen Kontexte und Bestimmungen des Konzeption, Herstellung und Verwertung wissenschaftlichen Wissens.

Abb.1 Elemente einer Wissenschaft. Huber in Meyer, Plöger, 1994.


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3. Gegenstandsfeld

Das wichtigste Grundelement einer wissenschaftlichen Fachdisziplin ist die Bestimmung des eigenen Gegenstandes, und eines zugehörigen "Begriffsfeldes" zu seiner Beschreibung. Darüberhinaus sind die Bezugsdisziplinen und ihre Bedeutung für die Ergotherapie zu spezifizieren. Grundsätzlich bezieht sich Ergotherapie auf das Gegenstandsfeld "Gesundheit und Krankheit" des Individuums in seiner Umwelt. Neben der Ergotherapie beziehen sich auch andere Wissenschaften und Berufe auf dieses Berufsfeld, oder Teile davon. Dies sind die Medizin, die Sozialwissenschaften und andere Gesundheitsberufe. Was ist der spezifische ergotherapeutische Ausschnitt? Ergotherapie beruht auf der Erfahrung, daß die Notlage eines Patienten mehr umfaßt als die medizinisch diagnostizierbare Erkrankung. Die medizinische Behandlung bewirkt nicht automatisch Handlungsfähigkeit in Beruf und Alltag. Diese muß vielfach erst durch die Beschäftigung mit Ihr, neu er-arbeitet werden. Sie bietet bei allen Folgeerscheinungen von Gesundheitsstörungen: Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen therapeutische Hilfen, um die Handlungskompetenzen zu entwickeln, zu erarbeiten bzw. zu erweitern. Ergotherapie sieht den Rehabilitationsprozess nicht nur als medizinisches Problem, sondern als menschliche Notlage, mit umfassenden Handlungsdysfunktionen, die Mittels Handlungsangeboten bewältigt oder kompensiert werden können.

Der spezifische Gegenstand der Ergotherapie sind demnach die Hilfen zur Optimierung des Rehabilitationsprozesses in Hinblick auf Alltags- und Berufsbewältigung.

Ausgehend von diesem Gegenstandsfeld können die Ziele und Problemstellungen ergotherapeutischer Wissenschaft näher bestimmt werden.

Problemstellungen von Ergotherapie als Wissenschaft
- Handlungsprobleme und Einschränkungen zu erkennen, die sich auf dem Hintergrund von Störung, Erkrankung und Behinderung ergeben.
- Wirkungszusammenhänge und -einflüsse, z.B. Lebensalter, individuelle Lebensformen und gesellschaftliche Lebensbedingungen herauszuarbeiten, die dieselben vermindern bzw. verstärken.
- Handlungsvoraussetzungen und -ansätze der Patienten zu erkennen sowie ergotherapeutische Methoden der Rehabilitation zu erarbeiten, um dieselben zu fördern
- für einzelne Patienten und Patientengruppen Rückschlüsse auf beschleunigende und retardierende Momente der Rehabilitation als (Wieder-) Aufbau von Handlungskompetenz zu erarbeiten.
- zu erforschen, welche ergotherapeutischen Wirkungszusammenhänge und -einflüsse zu besonderen Rehabilitationserfolgen führen.

Abb.2 Problemstellungen ergotherapeutischer Wissenschaft (Beyermann 1998).


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3.1 Das Verhältnis der Ergotherapie zu ihren Bezugsdisziplinen

Ähnlich wie sich auf dem Hintergrund der Pädagogik die Anwendungswissenschaft Sonder- und Heilpädagogik, oder aus der Physik die angewandte Wissenschaft Elektrotechnik entwickelt hat, kann sich Ergotherapie auf dem Hintergrund ihrer Bezugswissenschaften konstituieren und "Eigengewicht" entwickeln. Die Bezugsdisziplinen liefern hierbei Basismodelle für biologische, individuelle und gesellschaftliche Grundstrukturen und deren Interaktionen. Ausgerichtet an ihrem eigenen Ziel muß die Ergotherapiewissenschaft daraus eigene Begriffe, Methoden und Modelle entwickeln.
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3.2 Schlüsselbegriffe

Ergotherapie bedarf eines spezifischen Begriffsinstrumentariums, das einen Teil des unter 3. genannten "Begriffsfeldes" darstellt, um ihr spezifisches Gegenstandsfeld zu beschreiben. Dieses Begriffsfeld muß von der Ergotherapie weitgehend noch erarbeitet werden. Es lassen sich jedoch meines Erachtens 6 Schlüsselbegriffe nennen von denen her Ergotherapie begrifflich gefaßt werden kann.

Die angegebenen Schlüsselbegriffe characterisieren keine abgeschlossenen Theoriebildungsprozesse. Problematisch bei der Nutzung dieser Begriffe ist weiterhin, daß sie auch von anderen wissenschaftlichen Disziplinen bzw. Berufen genutzt werden. Erst durch die Reflektion im ergotherapeutischen Anwendungskontext können sie ihre spezifische Bedeutung erlangen. Eine ausfürliche Diskussion der Schlüsselbegriffe findet sich in Beyermann(1999).
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4. Konstitutionsbedingungen

Auf dem Hintergrund der ergotherapeutischen Berufspraxis sowie des wissenschaftlichen Gegenstandes ergeben sich für die Konstituierung der Ergotherapie als Wissenschaft spezifische Bedingungen. Die theoriebildenden Refelexionen und Forschungen müssen sich auf mehrere Ebenen beziehen :

  1. - Ergotherapie als Integrationswissenschaft umfaßt die wissenschaftlich reflektierte Verwendung der Wissensbestände, die die wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen zur Verfügung stellen. Dazu gehören auch die Theorien und Ergebnisse (Forschungen) der Ergotherapiewissenschaften anderer Länder.
  2. - Ergotherapie als Anwendungswissenschaft meint die wissenschaftliche Fundierung und Evaluation der Behandlungsverfahren und Methoden, die bisher zumeist in der Form sogenannter Theorien der Praxis vorliegen.
  3. - Ergotherapie als Basiswissenschaft bezieht sich auf die Entwicklung einer Leitdisziplin, -theorie oder eines integrative Konzepts, als (methatheoretische) Klammer für die Vielfalt der Bezugsdisziplinen, Versorgungsansätze, Arbeitsfelder, Methoden und Adressaten.
  4. - Ergotherapie als empirische Wissenschaft erfordert: Zur Theorieentwicklung gehören auch Möglichkeiten der empirischen Überprüfung der Beschreibungen, Analysen und Handlungsorientierungen.
  5. - Ergotherapiewissenschaft muß darüberhinaus berücksichtigen, daß ihre Position an der Schnitt und Grenzstelle von Natur- und Sozialwissenschaft Grundprobleme beinhaltet. Alle ergotherapeutischen Modelle mit wissenschaftlichem Anspruch werden neben der Beschreibung, Analyse und Erklärung des Physischen auch das Psychische und Soziale reflektieren müssen und somit (wissenschafts-) theoretisch sehr unterschiedliche Bezugsebenen eingehen.

Aus den bisher vorgetragenen Überlegungen ergeben sich die folgenden Kernbereiche ergowissenschaftlicher Forschung:

Diese Veröffentlichung möchte ich mit der Hoffnung abschließen, daß ich Ihnen mit diesen Ausführungen Pfade in die Wildnis Wissenschaft deutlich gemacht, zu Diskussionen angeregt und vielleicht auch den einen oder anderen zu eigenem Studium bzw. Forschen ermuntert habe. Viele Ausgangspunkte sind möglich und die Auseinandersetzungen um die Professionalisierung von Ergotherapie sollten engagiert geführt werden.
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4. Literatur

Beyermann, Gisela (1998) Didaktische Grundprobleme im Gesundheitswesen. Dissertation, Heidelberg.
Stichworte: Ausbildung; Didaktik; Theorie;

Beyermann, Gisela (1999) Ergotherapie - eine Wissenschaft für sich? - Eine Wissenschaft für mich?. ergoTHERAPIE 2/99 , Verband der diplomierten Ergotherapeuten Österreichs, Wien.
Stichworte: Theorie;

Deutscher Verband der Ergotherapeuten (1997) Ergotherapie 2005. Denkschrift, Karlsbad.
Stichworte: Berufspolitik, www.ergotherapie-dve.de

Huber, L. (1994) Wissenschaftspropädeutik - eine unerledigte Hausaufgabe der Allgemeinen Didaktik. In Meyer/Plöger (Hrsg.) Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik und Fachunterricht.S.243-254. Weinheim/Basel
Stichworte: Didaktik; Wissenschaftstheorie;

Kielhofner, Gary (1992,1997) Conceptual Foundations of Occupational Therapy. 2.nd Edition, F.A. Davis, Philadelphia.
Stichworte: Modelle; Theorie;

Langfeldt, H.P. "The practical theorist" wer war es? In H.E. Lück und R. Miller (Hrsg.) Illustrierte Geschichte der Psychologie. S.96 München Quintessenz.
Stichworte: Psychologie; Theorie;

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5. Glossar

Reflektion (wissenschaftliche)
- Der Begriff "Reflektion" ist in diesem Artikel als Betrachtung zu verstehen. Analog zu einem physikalischen Gegenstand, der Licht reflektiert, und dadurch einen Form- und Farbeindruck hervorruft, werden abstrakte Gegenstände unter einem theoretischen Aspekt (analog dem Licht) betrachtet, und geben dadurch abstrakte Strukturen zu erkennen.

Konstitution
wird im Sinne von "Gründen" benutzt.


aufgenommen 19. Januar, 1999