Journal für ergotherapeutische Forschung und Lehre (JeFL) 1:3 (1999)

Von Fragestellungen im Berufsalltag zur Forschung in der Ergotherapie

Überlegungen zu einigen kritischen Stationen auf dem Forschungsweg
Copyright Hinweis

Christine Priebe
Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin,
POTSDAM


Inhalt

  1. Einleitung
  2. Die Skizze eines modellhaften Forschungsweges
  3. Reflektionen zum Gegenstand ergotherapeutischer Forschung und zu den Professionalisierungsbemühungen unserer Berufsgruppe
  4. Abschließende Bemerkungen
  5. Literatur

Zusammenfassung

Die Forschung in der Ergotherapie (ET) ist eine entscheidende Unterstützung zur Verbesserung der Behandlungsqualität und Effektivität. Der Weg zur Professionalisierung der ET in Deutschland hat folgende Aufgabenschwerpunkte: Forschungsorganisation, Entwicklung einer Forschungsmethodik sowie die Klärung des Forschungsgegenstandes. Aus der gesellschaftlichen Verantwortung der ET heraus, erwächst die Notwendigkeit über den Weg der Akademisierung sich wissenschaftlich mit dem Arbeitsgegenstand der ET auseinanderzusetzen und gewonnene Erkenntnisse nutzbar zumachen.


Stichworte: ergotherapeutische Forschung, Professionalisierung, Forschungsorganisation, Forschungsgegenstand, Methodik


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1. Einleitung

Wie kommt die Ergotherapie in Deutschland aus ihrer bisherigen Situation als einer Berufsgruppe ohne Forschungserfahrungen an Möglichkeiten, sich Wissen und Fähigkeiten zum Forschen anzueignen? In diesem Artikel soll modellhaft einem Forschungsweg nachgegangen werden und sich hierbei ergebende Gedanken in Hinblick auf den Gegenstand der Ergotherapie und die Bemühungen um Professionalität Berücksichtigung finden. Mein Vorgehen möchte ich in drei Schritte unterteilen. Eingangs soll der Rahmen beschrieben werden, der die Anregungen und den Hintergrund für diesen Artikel bildet. Zweitens soll versucht werden modellartig, die Stufen oder Stationen eines Forschungsweges nachzuzeichnen, wie er für ergotherapeutische Forschungsprojekte denkbar wäre. Abschließend sollen einige Reflexionen zum Gegenstand ergotherapeutischer Forschung und zu den Professionalisierungsbemühungen unserer Berufsgruppe angestellt werden.

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1.1 Ausgangspunkt des Artikels

Einen Beitrag zur oben gestellten Frage leistete der Workshop "Impulse für die Forschung in der Ergotherapie" an der Fachhochschule Osnabrück vom 19. bis 20. November 1998. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden drei Beispiele ergotherapeutischer Forschung in Deutschland vorgestellt und diskutiert. Mit einem Grundsatzreferat von Prof. Dr. Wolfram Blumenthal, Geesthacht, zum Thema "Die WHO-Classification (ICIDH) als Rahmenkonzept für Assessment-Verfahren und die Zieldefinition im Bereich der Rehabilitation" wurde der gedankliche Prozeß für Forschungsvorhaben in der Ergotherapie eingeleitet. Im Anschluß daran wurden drei Forschungsprojekte zu den Themen:

in Vorträgen vorgestellt und hernach in Arbeitsgruppen vertiefend diskutiert. In Hinblick auf die Bestimmung von Forschungsvorhaben für die Ergotherapie in Deutschland, wurden anhand der konkreten Beispiele und Erfahrungen der Kollegen Wege zur Forschung in den einzelnen Arbeitsgruppen erarbeitet.
Hierbei nahm ich an der Arbeitsgruppe zum dritten Forschungsprojekt teil. Gesprächsgrundlage bildete das Forschungsprojekt von Frau Borchardt, zum Thema "Zusammenhang zwischen ärztlichen Diagnosen und Störungsbildern der sensorischen Integration". Ausgehend von der Umsetzung des konkreten Forschungsvorhabens Frau Borcharts - der Zeitraum von ersten Überlegungen bis zur Präsentation auf diesem Workshop umfaßte bei ihrem Projekt mehrere Jahre - wurde versucht, einige Stufen und Stationen ihres Forschungsweges so allgemein wie möglich zu formuliren, so daß sie für andere forschungsinteressierte Kolleginnen und Kollegen eine mögliche Orientierung bei eigenen Forschungsprojekten bilden könnten. Im folgenden sollen die in der Arbeitsgruppe erarbeiteten wesentlichen Stufen und Stationen kurz vorgestellt und näher erläutert werden.

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2. Die Skizze eines modellhaften Forschungswegs

2.1 Von der Frage aus der Praxis zur Ergotherapeutischen Forschungsfrage

Ausgehend von Fragestellungen im Berufsalltag entstehen immer wieder Forschungsideen, die eine eingehende Beleuchtung verlangen. Beispielsweise stellt sich sehr häufig die Frage nach der Wirksamkeit unserer Therapie und deren Beweis. In wie weit werden die in der Therapie gewonnen Fähigkeiten von den Patienten nach Abschluß der Behandlung in ihrem Lebensalltag genutzt oder welchen Einfluß hat die ergotherapeutische Behandlung darin bewirkt? Oder, welche Zusammenhänge ergeben sich für die Handlungsfähigkeit der Patienten bei bestimmten Diagnosen? Nicht selten steht auch die Frage, welches Behandlungskonzept hat welchen Effekt, und bei welchen Erkrankungen oder Patientengruppen weist welches Behandlungskonzept die besten Ergebnisse auf. Wie oder woran werden die Ergebnisse der Therapie deutlich gemacht? All diese Fragen entspringen dem Wunsch die eigene Arbeit zu verbessern oder den Erfolg der ergotherapeutischen Behandlung deutlicher aufzeigen zu können. Häufig jedoch sind schon die ersten Schritte, sich mit dem Thema der Frage auseinanderzusetzen, von Unwegsamkeiten struktureller, organisatorischer und rechtlicher Art begleitet. Fraglich ist, ob sich die Untersuchungen innerhalb der Einrichtung durchführen lassen und mit wem die Schritte des Vorhabens in der Einrichtung abgesprochen sein müssen? Können und dürfen überhaupt Daten von Patienten gesammelt werden? Welche rechtlichen Vorgaben gibt es zum Datenschutz? Wie weit müssen die Daten verschlüsselt werden und auf welche Weise? Somit besteht schon hier die Gefahr, daß Klärungsversuche von vorneherein zu scheitern drohen. Auf der Suche nach den Antworten bieten sich jedoch eine Fülle von Möglichkeiten, die jede auf ihre Weise Teile zu Lösungen beitragen können.

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2.2 Literaturrecherche

Es ist auf den ersten Blick einleuchtend sich mit der Recherche von einschlägiger Literatur zu befassen. Es muß beginnend abgeklärt werden, ob und welches Wissen zur Beantwortung dieser Frage bereits existiert. Dabei ist es sinnvoll nationale und internationale Literatur zu verwenden. Sie sollte einerseits dem eigenen Berufsfeld andererseits auch den berufsangrenzenden Fachdisziplinen entstammen. Als dienlich erweist sich dabei das Aufsuchen von wissenschaftlichen Bibliotheken und das Nutzen von elektronischen Medien. Bereits bei diesem Schritt zeigt sich, daß dies einfach zu sein scheint, aber doch schon eine ganze Menge an Arbeit und Wissen erfordert.

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2.3 Das Gewinnen von Mitstreitern

Anfänglich geht es hier zunächst noch nicht um die konkrete Forschungsfrage, sondern vielmehr darum, ein Forum zu schaffen, mit dem gemeinsam die Ursprungsidee hinterfragt wird. Vielleicht ergeben sich noch neue zu bedenkende Aspekte, die dem Konkretisieren der Hauptforschungsfrage dienlich sein könnten. Das bedeutet die bestehenden Fragen in Kollegenkreisen zu stellen und zu diskutieren, um anschließend ein kleines Forschungsteam zu bilden, in dem die Hauptforschungsfrage konkret ausgehandelt und festgeschrieben werden kann. Entscheidend für ein gutes Gelingen ist eine stabile, dauerhafte Zusammenarbeit. Ratsam ist es, ein nicht zu großes Arbeitsteam aus Interessierten zu bilden und in die dauerhafte Forschungsarbeit einzubinden. In entsprechend zusammengesetzten Teams lassen sich dann bereits mehr Ideen entwickeln, sowie die Hauptfrage, die Unterfragen und die Inhalte des Forschungsvorhaben klären. Ein Beispiel für Haupt- und Unterfragen soll kurz angerissen und verdeutlicht werden. Stellt man als Hauptfrage - Wird der Einsatz von Hilfsmitteln im Alltag nach Beendigung der ergotherapeutischen Behandlung weiterhin von den Patienten genutzt? (bezogen auf eine Erkrankung) - ergeben sich gleichzeitig noch Unterfragen, die sich mit Hilfe der erhobenen Daten beantworten lassen und die detailiertere Aussagen zum Sachverhalt geben könnten. Beispielsweise könnte man dieser Frage in unterschiedlichen Zeitintervallen nach Abschluß der Behandlung der Patienten nachgehen (1. Untersuchung: 8 Wochen nach der Entlassung, 2. Untersuchung: ein Jahr nach der Entlassung). Außerdem könnte man herausarbeiten, ob signifikante Unterschiede bei den Geschlechtern im Nutzen von Hilfsmitteln zu finden sind? Oder, ob sich aufgrund der sozialen Rollen, die die Patienten jeweils inne haben, Unterschiede nachweisen lassen? Davon ausgehend müssen die Inhalte des Forschungsvorhaben genau geklärt werden. Im folgenden sollen dabei zu beachtende Schritte aufgezählt werden. Als erstes muß die Vorgehensweise festgelegt, die Mittel und die Methoden zur Datenerhebung und späteren Auswertung ausgewählt und beschrieben werden. Folgend sollten alle wichtigen Aspekte der Untersuchung definiert werden, beispielsweise die Kriterien zur Auswahl der Probanden (Untersuchungsalter, diverse Charakteristika), der Untersuchungszeitraum und äußere Untersuchungsbedingungen, und in einem Versuchsplan zusammengefasst werden.

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2.4 Hinzuziehen von Fachkompetenz anderer Berufsgruppen

Besonders in diesem Rahmen bemerken wir Ergotherapeuten teils von außen, teils auch selbst gesetzte Grenzen. Fehlendes Wissen aus den angrenzenden Berufsgruppen und über Forschung und Forschungsmethoden können unsere wertvollen Versuche, die gestellten Fragen wirklich wissenschaftlich zu beantworten, sehr schnell in eine Sackgasse geraten lassen. Die Bildung eines Fachgremiums, was sich auch aus angrenzenden Fachdisziplinen zusammensetzt, ist von großer Bedeutung. Die Konsultation von Medizinern und Psychologen können den Erfolg unserer Forschungsideen erheblich unterstützen. Einerseits ergeben sich aus den Beratungen hilfreiche Hinweise in Richtung Aufbau und Durchführung unserer Forschungsvorhaben, andererseits verbessert sich das Verständnis von Ergotherapie durch die eingeleitete Transparenz für alle am Prozeß Beteiligten. Das beinhaltet nicht nur für Ergotherapeuten, die Reflexion der eigenen Arbeit und der Ergotherapie allgemein, sondern fördert auch die Zusammenarbeit und das Verständnis für die ergotherapeutische Arbeit mit den angrenzenden Berufsgruppen.

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2.5 Finanzierung der Forschung

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor, bei der Umsetzung von Forschungsideen ist die Finanzierung des gesamten Vorhabens. Derzeitig scheint im ergotherapeutischen Bereich noch alles mit enorm viel Eigenintiative und Eigenmitteln finanziert zu werden. Bestimmte Datenerhebungen lassen sich im Rahmen der üblichen ergotherapeutischen Behandlung durchführen, jedoch bleibt für viele Arbeiten (Literaturrecherchen, Diskussionen, Beratungen, Auswertungen) derzeitig häufig nur eine Wahl: Freizeit im großen Maß zu opfern. Im günstigen Fall ergeben sich im Verlauf der Forschungsarbeit Finanzierungsmöglichkeiten über den Verkauf der erarbeiteten Untersuchungsmaterialien, oder den Verkauf der Forschungsergebnisse und Schulungen, die jedoch schnell erschöpft sind. Um nicht die meisten Kosten über Jahre hinaus aus Eigenmitteln finanzieren zu müssen, die so oder so kaum einen angemessenen Spielraum zu lassen, ist es deshalb um so bedeutsamer, danach zu fragen, wer an der Erforschung ergotherapeutischer Fragestellungen ein Interesse haben könnte. Gerade in Zeiten knapper finanzieller Mittel ist eine Evaluation unserer Ergebnisse notwendig, um nachzuweisen in welchen Bereichen Ergotherapie als sinnvolle Ausgabe für Krankenkassen und andere Träger im Auftrag der Patienten ist. Deshalb werden nicht nur Berufsgruppenmitglieder, der Berufsverband und die Patienten, sondern ebenfalls die verschiedenen Kostenträger, aber auch Verbände, Selbsthilfegruppen und verschiedenste Vereinigungen ein Interesse an unseren Forschungsergebnissen haben.
Noch ist es eher ungewöhnlich und unbekannt, daß in der deutschen Ergotherapie bereits Forschung möglich sein könnte. Das gründet zum einen auf dem für Forschung noch ungenügendem Ausbildungsgrad in Deutschland sowie den hier fehlenden institutionalisierten Forschungsstätten und dem fehlendem Wissen über institutionelle Anbindungsmöglichkeiten für ergotherapeutische Forschungsprojekte. Im Rahmen des Weiterbildungsstudiengangs "Ergotherapie" der Fachhochschule Osnabrück ergeben sich jedoch erste Schritte, der Forschung in der Ergotherapie einen Ort zu geben und sie voranzutreiben. Desweiteren gibt es die Möglichkeit über Projektanträge Forschungsmittel der Ministerien auf Landes- und Bundesebene, EU-Ebene oder gar über die WHO zu beantragen. Welche Formalitäten und Fristen in den einzelnen Fällen zu berücksichtigen sind, muß in jedem Fall recherchiert werden. Verschiedene Stiftungen bieten ebenfalls Finanzierungsmöglichkeiten für Forschungsvorhaben an. Nicht zuletzt erfolgen auch im Rahmen von Theorie - Praxis - Transfer verschiedene Angebote von Fachhochschulen für die Forschung.

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2.6 Die Präsentation der Forschungsergebnisse

Der Präsentation der Forschungsergebnisse kommt im gesamten Forschungsprozeß eine bedeutende Rolle zu. Bezüglich der Präsentation sind bestimmte formale Vorgaben genau zu beachten. Die Einhaltung gibt letztendlich die Gewähr für eine gründliche wissenschaftliche Arbeit. Das gilt im besonderen für die Literaturangaben, die Autorennennung und das Copyright. Hinweise und Hilfe dazu findet man beispielsweise in verschiedener Literatur zum Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch im Austausch mit den Kollegen anderer Berufsgruppen, die beratend an der jeweiligen Forschungsarbeit mitwirken. Ebenso entscheidend wie die Einhaltung der formalen Vorgaben ist die Präsentation der Ergebnisse innerhalb der eigenen Berufsgruppe als auch die in den angrenzenden Berufsfeldern. Insbesondere gilt es die Ergebnisse interdisziplinär öffentlich zu machen, um in einen gewinnbringenden wissenschaftlichen Dialog mit den anderen Berufsgruppen einzusteigen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß die Art und Weise einer Präsentation ein Maß für Kompetenz und damit für Akzeptanz ist. Möglicherweise ist es sinnvoll die Ergebnisse mit den Beratern, die an der Forschungsarbeit beteiligt waren, gemeinsam in ihren Berufsgruppen zu präsentieren und zu diskutieren. Es ist denkbar, daß die Berater auch selbst die Ergebnisse in ihre Berufsgruppen hineintragen und somit einen Beitrag zur Verbreiterung unserer Forschungsergebnisse leisten. Zudem sollten jedoch gerade jene, denen in letzter Konsequenz unsere Forschung zugute kommen soll, von unseren Ergebnissen informiert werden. Das sind in erster Linie die Patienten, die teilweise organisiert in Selbsthilfegruppen, häufig an neuen Erkenntnissen auf dem medizinisch-therapeutischen Gebiet interessiert sind. Gleiches gilt für alle Institutionen, die in der Vertretung und der Verantwortung für Patienten handeln.
Der Einstieg in den wissenschaftlichen Dialog erfordert nicht nur die reine fachliche Kompetenz des Forschenden, sondern auch in besonderem Maß Kritikfähigkeit. Je mehr geforscht wird, um so vielfältiger werden die Forschungsansätze zu einzelnen Themen oder Themenkomplexen sein, die, im positiven Sinn, miteinander konkurrieren. Gerade darin liegt die Chance, zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen. Deshalb ist es unbedingt notwendig sich dieser Diskussion zu stellen, verschiedene erfolgversprechende Forschungsansätze innerhalb der eigenen Berufsgruppe sowie im interdisziplinären Rahmen nebeneinander gelten zu lassen und die Diskussionen mit eigenem fundierten Wissen zu beleben.

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3. Reflexionen zum Gegenstand ergotherapeutischer Forschung und zu den Professionalisierungsbemühungen unserer Berufsgruppe

3.1 Gedanken zum Gegenstand ergotherapeutischer Forschung

In der Auseinandersetzung mit möglichen Forschungsthemen wirft sich die Frage nach den Zentralen Bereichen der Forschung und nach dem ergotherapeutischen Forschungsgegenstand auf. Diese Frage steht im direkten Zusammenhang damit, was eigentlich im Zentrum ergotherapeutischer Behandlung steht und woran deren Erfolg bestimmbar ist. Werden physiologische, kognitive und motorische Teilaspekte der Betätigung und der Handlungsfähigkeit erforscht und spiegelt die Summe ihrer Veränderungen durch die Ergotherapie die Qualität der ergotherapeutischen Behandlung wider, oder wird Betätigung und Handlungsfähigkeit in ihrer bio-psycho-sozialen Gesamtheit und möglicher Bedeutung für den einzelnen und sein Wohlbefinden betrachtet und läßt sich der Behandlungserfolg letztlich vorrangig über die Einschätzung wiedergewonnener Handlungsmöglichkeiten über den Klienten beurteilen? Um beide Ansätze zu verdeutlichen sollen sie an dieser Stelle grob anhand von Beispielen skizziert werden. Der erste Forschungsansatz, die Untersuchungf von Teilaspekten, reduziert den Blick auf eine Handlungsfähigkeit, die als Konsequenz zugrundeliegender körperlicher Funktionen verstanden wird, beispielsweise motorische oder perzeptive Funktionen. Man könnte untersuchen wie sich die Kraft der Finger durch die ergotherapeutische Behandlung erhöht. Mit entsprechenden Meßverfahren läßt sich dies relativ einfach ermitteln. Jedoch ist es mit dieser Untersuchung noch nicht möglich, verläßliche Rückschlüsse in Bezug auf die Frage zu gewinnen, ob und welche Verbesserung sich daraus für die Betätigung oder Handlungsfähigkeit einer bestimmten Person ergeben. Schrittweise wäre es auch möglich die einzelnen Komponenten motorisch-sensorischer Art in ihren Einzelheiten im Hinblick auf die feinmotorischen Fertigkeiten genauer zu erforschen. Doch auch hier wirft sich die Frage auf, inwieweit bestimmte feinmotorische Fähigkeiten Auswirkungen auf die Betätigung und Handlungsfähigkeit haben. Welcher Bezug läßt sich zur Betätigung und zur Handlungsfähigkeit wie sie die Ergotherapie als ihren Gegenstand verstanden wissen will und wie sie der Patient/ Klient versteht, herstellen? Deutlich wird, es sind Teilaspekte, die hier untersucht werden würden. Welche Auswirkungen sie auf die Betätigung und die Handlungsfähigkeit haben könnten wird damit alleine aber nicht deutlich. Diese Untersuchungen lassen demnach keine Aussagen über die Gesamtheit der Betätigung und der Handlungsfähigkeit als Gegenstand der Ergotherapie zu. Wenn dieser untersucht werden soll, ergibt sich eine völlig andere Perspektive. Dann müßte beispielsweise gefragt werden, welchen Sinn und welche Bedeutung haben die Betätigung und die Handlungsfähigkeit für den Menschen. Von dieser Fragestellung ausgehend könnten weitere Untersuchungen den Zusammenhang zwischen Betätigung und Gesundheit versuchen umfangreicher zu klären. Prarham (1998) bezieht sich in ihrem Artikel "Welches ist der Kernbereich (Proper Domain) ergotherapeutischer Forschung" auf eine Studie, die derzeit in den USA von Bonnie Kennedy im Rahmen ihrer Doktorarbeit durchführt wird.

"Sie untersucht die Beziehung zwischen affektiven Erfahrungen während der täglichen Betätigungen [...] und Funktionen des Immunsystems [...] bei HIV positiven Frauen. Zusätzlich wird die Häufigkeit und Schwere von Infektionssymptomen gemessen und mit den Erfahrungen täglicher Betätigung in Verbindung gebracht. Diese Studie erkundet die Beziehung zwischen Betätigungserfahrungen und der Gesundheit der Person anhand von Veränderungen der Immunsystemfunktionen." (Prarham 1998, S. 486, Übersetzung: U.Marotzki)

Hier wird deutlich, daß Betätigung als Gesamtheit und damit umfassender gesehen wird, wodurch sie eine andere Betrachtung und ein anderes Ausmaß erfährt. Ebenfalls ist einsichtig, daß unterschiedliche methodische Verfahren zur Erforschung dieses Zusammenhangs eingesetzt werden müssen.
Die Frage nach dem Forschungsgegenstand der Ergotherapie wird bereits seit Jahren in den Vereinigten Staaten, in denen seit langem Forschungserfahrungen in der Ergotherapie vorliegen, vielfach diskutiert. Es bestehen nach wie vor unterschiedliche Meinungen. Der oben bereits erwähnte Artikel von Prarham zeigt anhand von verschiedenen Forschungs- beispielen die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Er liegt auch den folgenden Ausführungen zugrunde. Zum oben dargelegten Beispiel führt Prarham aus, daß sich unserem Verständnis von Betätigung und Gesundheit eine aufregend neue Dimension hinzufügen lasse, falls sich ein Zusammenhang zwischen Betätigungserfahrungen und der Gesundheit der Person anhand von Veränderungen der Immunsystemfunktionen tatsächlich nachweisen ließe. Ein solches Ergebnis könne die Tür zu neuen innovativen Ergotherapieprogrammen öffnen.
Sowohl die Erforschung von Teilaspekten der Betätigung und der Handlungsfähigkeit als auch die Untersuchung von Betätigung und Handlungsfähigkeit in ihrer bio-psycho-sozialen Gesamtheit sind demnach von großer Bedeutung für die Ergotherapie. Die Erforschung von Details der Betätigung oder der Handlungsfähigkeit beinhaltet eine begrenzte Sichtweise der Betätigung bzw. der Handlungsfähigkeit selbst. Sie kann ihnen von daher gesamtheitlich nur teilweise gerecht werden. Es ergibt sich daher die Notwendigkeit auch in der Betrachtung von Teilaspekten den Bezug zur Betätigung und Handlungsfähikeit im Gesamtrahmen der jeweiligen Forschungsprojekte deutlich herzustellen.
Beide Forschungsansätze erfordern unterschiedliche Herangehensweisen. Deshalb ist es um so entscheidender genau herauszustellen, in welchem Zusammenhang zur Betätigung und zur Handlungsfähigkeit als Gegenstand der Ergotherapie sich die Fragestellung befindet. Es ist wichtig, die Gegenstände der jeweiligen Forschung klar herauszufiltern, und den Bezug zum umfassenden Gegenstand der Ergotherapie (zur Betätigung und zur Handlungsfähigkeit) zu (er)klären. Dazu ist es notwendig, die derzeitig gültigen Grundannahmen innerhalb der ergotherapeutischen Forschung und auch der angrenzenden Fachbereiche zu kennen sowie diese in der Forschungsarbeit zu berücksichtigen. Dabei ist auch die Klärung methodischer Fragen erforderlich. Diese umfasst einerseits die Frage nach der objektiven Meßbarkeit von Aspekten der Handlungsfähigkeit und andererseits die Frage des Erschließens von Dimensionen der individuellen Handlungsfähigkeit über reflektierende Methoden des Verstehens.

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3.2 Verantwortung der Ergotherapie gegenüber der Gesellschft

Prarham bezieht sich in ihrem Artikel auch auf M. Reilly, eine Mitbegründerin der akademischen Ergotherapie in den USA. Diese vertrete den Standpunkt, daß die Handlungsfähigkeit sowie die Betätigung den Arbeitsgegenstand der Ergotherapie im Rahmen der Gesundheitsversorgung darstelle. Hieraus resultiere eine Verantwortung der Ergotherapie gegenüber der Gesellschaft, Wissen zu ihrem zentralen Konzept, der Betätigung, beizutragen. Wichtig sei es auch, die Grundvorraussetzung, daß Betätigung Gesundheit beeinflußt, näher zu erklären. Mit diesem Verweis unterstreicht Prarham ebenfalls die Forderung nach der Erforschung von Betätigung und Handlungsfähigkeit in seiner Gesamtheit:

"Betätigung ist der Bereich der die Profession auszeichnet (Reilly, 1962; Weimer, 1979). Keine andere Profession wird Betätigung [oder Handlungsfähigkeit - C.P.] in einer Art untersuchen, die die Sichtweise der Ergotherapie in den Mittelpunkt stellt. Sicher werden Forscher aus anderen Feldern Untersuchungen von unschätzbarem Wert [zum Verständnis von - U.M.] Betätigung beitragen. Wenn die ergotherapeutische Profession eine Synthese des Wissens erlangen möchte, welche den uns eigenen Blick auf Betätigung beleuchtet, dann müssen in der Profession Ausgebildete daran beteiligt sein, diese Synthese z entwickeln."(Prarham, 1998, Übersetzung: U. Marotzki)


Um diesen Erkenntnis- und Wissensgewinn zu erreichen, begibt sich die Ergotherapie in Deutschland auch über die Forschungsmethoden anderer akademischer Berufsgruppen und die Akademisierung innerhalb der eigenen Berufsgruppe auf den Weg der Professionalsierung. Der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Ergotherapie und dessen tiefere Erforschung kommt eine grundlegende Bedeutung zu. Vorraussetzungen dem Forschungsauftrag gerecht werden zu können, liegen vor allem in der Aneignung vielfältiger methodischer Vorgehensweisen sowie deren Weiterentwicklung zu spezifischen Forschungsmodellen für die Ergotherapie. Diskussionen und Untersuchungen über konkurrierende Forschungsansätze innerhalb der eigenen Berufsgruppe sowie der interdisziplinären Fachgruppen werden eine Herausforderung darstellen und zu mehr Reflexion und Effizienz in der ergotherapeutischen Arbeit führen. In der Darstellung der Forschungsergebnisse ist es deshalb entscheidend den Bezug zwischen dem Arbeitsgegenstand der Ergotherapie und den gewonnenen Aussagen zu verdeutlichen und diese mit den bis dahin gegebenen Erkenntnissen kritisch zu vergleichen und in den gewinnbringenden Diskurs mit anderen Berufsgruppen einzusteigen.

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4. Abschließende Bemerkungen

Das Interesse und die Notwendigkeit an diesem Auftrag innerhalb der Ergotherapie in Deutschland mitzuwirken, wurde an der regen Teilnahme und den Diskussionen während des Workshops in Osnabrück sichtbar. Vielfältige Hinweise und Ideen sind zum Thema Forschung in der Ergotherapie entstanden. In kurzen Ausführungen zu den kritischen Stationen des Forschungsweges wurde versucht, die mir am wichtigsten erscheinenden Schritte aus der benannten Gruppenarbeit aufzuführen und kurz zu skizzieren. Jede der einzelnen Stationen bilden letztlich ein eigenes Thema und konnten von daher in diesem Artikel nur angerissen und nicht hinreichend behandelt werden. Wenn Ergotherapie wissenschaftlicher werden will, muß unbedingt eine intensive Auseinandersetzung mit diesen Themen sowie mit der Frage des Gegenstandes der Ergotherapie erfolgen. Im Ausblick des Workshops wurde vorgeschlagen zur Unterstützung ergotherapeutischer Forschung eine Infobörse zu den laufenden Forschungsprojekten, sowie Forschungsideen beim Verband der deutschen Ergotherapeuten einzurichten, um den Austausch darüber zu fördern. Wünschenswert wäre ebenfalls eine Wiederholung des Workshops in einiger Zeit, der die Möglichkeit bietet, sich tiefer mit bestimmten Aspekten ergotherapeutischer Forschung und dem Forschungsgegenstand auseinanderzusetzen.
Dieser Artikel soll daraufhinweisen, um auf die Ausgangsfrage zurückkommen, daß es bereits einige Möglichkeiten gibt, auf ergotherapeutischem Gebiet forschend tätig zu werden. Dennoch genügt es nicht, nur die Ansätze für eine zielgerichtete Forschung zu beherrschen, viel mehr erfordert das Betreiben ergotherapeutischer Forschung gleichfalls die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand der Ergotherapie und die Professionalisierung über den Weg der höheren Qualifizierung und Akademisierung innerhalb der Berufsgruppe.

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5. Literatur

Fachhochschule Osnabrück, Fachbereich Wirtschaft, Weiterbildungsstudiengang Ergo therapie: Tagungsunterlagen: Workshop "Impulse für die Forschung in der Ergotherapie" , 1998

Prarham, D. L.: What is the Proper Domain of Occupational Therapy Research?, American Journal Occupational Therapy 52, (6), 1998, S. 485-489, Übersetzung: U. Marotzki

U. Marotzki Reader zur Lehrveranstaltung: Forschung in der Ergotherapie/ Praxismodelle

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Adresse der Autorin:
Christine Priebe,
Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin
Gutsstraße 27
D 14469 POTSDAM


Für die freundliche Unterstützung und Beratung bei der Erstellung dieses Artikels bedanke ich mich ganz herzlich bei Frau Dipl.- Psych. Ulrike Marotzki

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Copyright Hinweis

Dieser Artikel basiert auf einem Artikel der in der Zeitschrift ergoTHERAPIE 2:1999 erschienen ist. Die Zeitschrift ergoTHERAPIE ist die Verbandszeitschrift der Diplomierten Ergotherapeuten Österreichs. Die Veröffentlichung in JEFL erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Verbandes.

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aufgenommen 20. Januar, 2000